Der Titel der Studie "The earliest human face of Western Europe" ist vielleicht etwas übertrieben. Denn die in der "Elefantenschlucht" im Norden Spaniens gefundenen Schädelfragmente reichen nicht wirklich, um das ursprüngliche Aussehen zu rekonstruieren.
Aber diese Überreste sind eine Sensation, denn sie sind zwischen 1,1 und 1,4 Millionen Jahre alt und wirbeln damit die gesamte Geschichtsschreibung Europas durcheinander. Dieser Fund ist nun der älteste eindeutige Beleg für die Gattung Homo in Westeuropa. Nur die Funde in Osteuropa, im Dmanissi im heutige Georgien, sind mit rund 1,8 Millionen Jahren noch älter.
Woher stammen die Knochenfragmente?
Die Knochen des Fossils ATE7-1 stammen von der linken Oberkiefer-, Wangen- und Schläfenpartie eines Erwachsenen. Ob das "älteste Gesicht Westeuropas" das einer Frau oder eines Mannes war, lässt sich nicht bestimmen.
Allerdings fällt auf, dass die zu erahnenden Gesichtszüge vergleichsweise primitiv waren. Vor allem die Nasenstruktur ist im Vergleich zum Homo antecessor und Homo sapiens eher flach und unterentwickelt, so María Martinón, die Direktorin des Nationalen Zentrums für Forschung über die menschliche Evolution laut der Nachrichtenagentur dpa.
Zahlreiche Sensationsfunde in "Elefantenschlucht"
Entdeckt wurden die Gesichtsfragmente bereits 2022 in der Höhle Sima del Elefante in Atapuerca, etwa 140 Kilometer südlich von Bilbao nahe der Stadt Burgos. An diesem wichtigen Fundort waren bereits 1994 und 2007 menschliche Fossilien des Homo antecessor und einer anderen Homo-Spezies entdeckt worden.
Das neue Fragment mit der sperrigen Bezeichnung ATE7-1 bekam von den Forschenden den Spitznamen "Pink" in Anlehnung an die Mitentdeckerin und Erstautorin der im Fachmagazin Nature veröffentlichten Studie Rosa Huguet.
Zu welcher Spezies gehört der Fund?
Die Forschenden rekonstruierten die Knochenfragmente mit traditionellen Konservierungs- und Restaurierungstechniken mit modernen Bildgebungs- und 3D-Analyseverfahren. So fanden sie heraus, dass das Individuum nicht zur Spezies Homo antecessor gehört, die ebenfalls in der "Elefantenschlucht" gefunden wurde. Vielmehr stammen die Fragmente von einem primitiveren Hominin, also von einer Art Menschenaffen.
Laut der Hauptforscherin Martinón reichen die Beweise noch nicht für eine endgültige Klassifizierung des neuen Fundes. Deshalb bezeichnen die Forschenden Pink als "Homo affinis erectus". Die Bezeichnung "affinis" hilft, "die Verwandtschaft von Pink mit Homo erectus anzuerkennen und gleichzeitig die Möglichkeit offen zu lassen, dass die Überreste zu einer anderen Spezies gehören", erläuterte María Martinón.
Meilenstein für Besiedlung Westeuropas
In jedem Fall bestätigt der Fund, dass zwei Homininenarten, also zwei große Menschenaffenarten, vor mehr als einer Million Jahren Westeuropa bevölkerten. Die Entdeckung sei "ein wichtiger Meilenstein für das Verständnis der menschlichen Besiedlung Europas", so die Direktorin des Katalanischen Instituts für menschliche Paläoökologie und soziale Evolution, Marina Mosquera.
Sehr wahrscheinlich haben sich die menschlichen Vorfahren im Laufe der Zeit von Afrika über den Nahen Osten und Ost- und Westeuropa bis auf die Iberische Halbinsel ausgebreitet - das belegen Knochen- und Werkzeugfunde.
Spuren von Fleischkonsum
Ebenfalls in der "Elefantenschlucht" gefundenen Steinwerkzeuge, Feuersteine und Schnittspuren an tierischen Knochenresten deuten darauf hin, "dass die ersten Europäer die verfügbaren tierischen Ressourcen sehr gut kannten und wussten, wie sie diese systematisch nutzen konnten", so die Pink-Namensgeberin Rosa Huguet vom katalanischen Paläoökologie-Institut in Tarragona.
Zu deren Lebzeiten im Pleistozän muss die Region noch grün und wasserreich gewesen sein. Paläontologische Analysen belegen, dass es dort Wälder, Grasland und viel Wasser gegeben haben muss. Außerdem fanden Forschende in der Region Knochen unter anderem von Pferden und Paarhufern, von Flusspferden und Bibern.
Quelle:
The earliest human face of Western Europe
https://www.nature.com/articles/s41586-025-08681-0