Antiziganismus schon im Kindergarten und in der Schule


Da sind die Grundschüler, die ihren Sinto-Mitschüler seit langem mobben, er sich deswegen nicht zur Schule traut, und das Lehrpersonal wegen der vielen Abwesenheiten mit Jugendamt und Kindesentzug droht. Da ist die Kindertagesstätte, die einem fünfjährigen und dreisprachigen Sinto eine Entwicklungsverzögerung unterstellt und ihn zu einem sonderpädagogischen Kindergarten schicken will – obwohl der Kinderarzt nichts feststellen kann. Und da sind die Schulen, die sich weigern, Sinti- und Roma-Kinder aufzunehmen oder sie auf Förderschulen abschieben wollen, weil sie mit den Familien stets Probleme assoziieren. Nur einige der vielen Beispiele, die in der Studie "Antiziganismus im Bildungsbereich am Beispiel Schulen und Kitas" der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus auftauchen. "Wir bekommen Meldungen von Übergriffen und Angriffen auf Sinti und Roma in Kindergärten und Schulen aus allen Bundesländern. Mobbing, verbale, aber auch körperliche Angriffe, wo Kinder systematisch verprügelt werden. Erschreckend ist, dass die Lehrkräfte häufig nicht einschreiten, um Mobbing und körperliche Übergriffe zu verhindern", sagt Guillermo Ruiz, Geschäftsführer der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus, der DW. "Solche Vorfälle begegnen uns tagtäglich, dabei sollte die Schule doch ein geschützter Raum sein, in dem sich Kinder wohlfühlen und geschützt werden. Aber das ist oft nicht der Fall." Deutschland braucht mehr Vertrauenspersonen und Bildungsberater Ruiz kann noch mehr verstörende Geschichten zum Antiziganismus in deutschen Bildungseinrichtungen erzählen: Von dem Mädchen zum Beispiel, dass von ihren Mitschülern an den Haaren über den ganzen Schulhof geschleift wurde, während die Lehrkraft nur untätig zusah. Oder die von einem anderen Mädchen, das ihren Lehrer fragte, ob es stimme, dass Sinti und Roma während des Holocaust ermordet wurden. Und der Lehrer antwortete, ja, das stimme, aus ihnen sei Seife gemacht worden, auch aus ihrem Großvater. Die Studie liefert ein erschreckendes Bild von Rassismus gegen Sinti und Roma bereits als Kinder und Jugendliche. "Wenn man so früh gemobbt hat, und das Gefühl bekommt, dass man nicht den gleichen Wert hat und nicht gleich behandelt wird, dann hat das oft Konsequenzen: Das kann das Selbstwertgefühl von Kindern und Jugendlichen angreifen", erklärt Ruiz. Rassismus und Antiziganismus könnten Menschenschicksale für immer negativ beeinflussen. "Einige Kinder haben dann keine Lust mehr, in die Schule zu gehen, woraufhin Sinti und Roma vorgeworfen wird, bildungsfern zu sein. Es ist ein Teufelskreis." Bei den Schulen stoße man auf eine Mauer aus Beton und auf ein geschlossenes System, kritisiert Guillermo Ruiz, noch keine einzige Beschwerde über Diskriminierung sei erfolgreich gewesen. Er fordert den verstärkten Einsatz von Bildungsberatern und Bildungsberaterinnen an den Schulen, mehr Lehrer und Lehrerinnen, die als Vertrauenspersonen den Kindern den Weg aus der Spirale der Ausgrenzung weisen und Antiziganismus als Teil des Curriculums im Lehramtsstudium, was jetzt immerhin das Saarland eingeführt hat. "Wir brauchen eine inklusive Schule, in der über die Geschichte der Sinti und Roma, über den Holocaust und über den gegenwärtigen Antiziganismus unterrichtet wird und dies im Bewusstsein des Lehrpersonals ist. Wir benötigen außerdem wirksame Beschwerdemechanismen, damit die Eltern ihre Stimme erheben und Beschwerde einreichen können. Und wenn Antiziganismus belegbar ist, muss es Konsequenzen geben." Institutioneller Rassismus nimmt durch Rechtsruck in Deutschland zu Die Roma und Sinti im 11.000-Einwohner-Städtchen Eisenberg in Thüringen haben so eine Vertrauensperson, die quasi sieben Tage die Woche 24 Stunden für sie da ist. Renata Conkova, in einer Roma-Familie in der Slowakei aufgewachsen, ist seit vier Jahren Leiterin des Büros von RomnoKher, dem Landesverband der Sinti und Roma, und kümmert sich um 250 Roma-Familien in der Region. "Das betrifft Schule, Arztbesuche, Wohnungssuche, Arbeit, Sachen wie zum Beispiel Meldung bei der Familienkasse, dem Jobcenter oder auch Gerichtstermine. Es geht auch um Bildung für die Kinder, um Sorgerechtsfälle und Übersetzungen. Ich bin eine Beraterin für jede lebensschwere Situation und kämpfe täglich für Integration und gegen Rassismus." Conkova kennt diese Geschichten über Antiziganismus an deutschen Schulen nur zu gut: An einer Regelschule habe sie mit einer Lehrerin zu tun, die Roma-Kinder aus dem Unterricht werfe, weil diese angeblich unangenehm riechen würden. Und die dann notieren würde, dass die Kinder nicht zum Unterricht erschienen seien, woraufhin die Eltern wiederum Probleme bekämen. Dabei gibt es auch viele Erfolgsstories: "In Greiz haben wir einen Alphabetisierungskurs für die ukrainischen Roma-Kinder gestartet. Und viele Roma-Mütter sehen, dass sie keine Angst um ihre Kinder haben müssen, wenn die zur Schule gehen." Doch Conkova beobachtet gleichzeitig, dass der institutionelle Rassismus mit dem Rechtsruck in Deutschland zunimmt, vor allem in der AfD-Hochburg Thüringen: "Viele Ärzte haben kein Problem mehr damit, jetzt öffentlich zu sagen, dass sie keine Roma aufnehmen. Auch 'Ausländer raus‘-Rufe hört man häufiger. Integration bedeutet, dass die Tür nach beiden Seiten offen ist. Doch für uns ist sie zu." Erster Bundesbeauftragter gegen Antiziganismus hat viel angestoßen Mehmet Daimagüler kämpft seit drei Jahren unermüdlich dagegen an, der Rechtsanwalt ist seit dem 1. Mai 2022 der erste Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma in Deutschland. Die Ergebnisse zum Antiziganismus in Schulen und Kindergärten hätten ihn nicht besonders überrascht, im staatlichen Bereich sei Rassismus gegen Sinti und Roma keine Seltenheit. Daimagüler sagt der DW: "Antiziganismus ist besonders tief verwurzelt ist in der Gesellschaft. Das geht so weit, dass das überhaupt nicht als Rassismus angesehen wird. Für diejenigen, die rassistisch denken und handeln, ist es ein Stück Normalität. Und da werden natürlich alle Vorurteile, die man insgesamt gegen die Eltern hat, projiziert und auch auf die Kinder weitergeleitet." Mit seiner Bilanz als Bundesbeauftragter sei er im Großen und Ganzen zufrieden, erzählt er. Daimagüler hat im Dezember 2023 einen Bundestagsbeschluss angestoßen, mit 27 Forderungen des Parlaments an die Regierung zur Teilhabe, zum Schutz und zur Stärkung von Sinti und Roma-Communities, den alle Fraktionen außer der AfD unterstützten. Außerdem wurde ein Bund-Länder-Kommission zur Bekämpfung des Antiziganismus ins Leben gerufen. Seit dem 1. April gibt es auch ein Rechtshilfenetzwerk, Betroffene von Antiziganismus erhalten dort unter anderem eine kostenlose juristische Erstberatung. Angesichts des zunehmenden gesellschaftlichen Rechtsrucks sei dies nötiger denn je, sagt Daimagüler. "Der Antiziganismus ist sehr viel sichtbarer geworden. Auf der einen Seite durch die Meldestellen, auf der anderen Seite durch den allgemeinen Trend zur sprachlichen Verrohung in der Gesellschaft, der sich auch hier manifestiert." Vom Sondierungspapier der Union und SPD ist Daimagüler deswegen enttäuscht: Sinti und Roma würden an keiner Stelle erwähnt, zum Schutz nationaler Minderheiten würden sich die Parteien nur mit einem einzigen Satz bekennen. Vor allem aber: Mit dem bevorstehenden Regierungswechsel endet Daimagülers Amtszeit als Antiziganismusbeauftragter der Bundesregierung – und es ist unklar, ob das Amt fortgeführt wird. "Das wäre sehr bedauerlich, auch weil wir aus dem Ausland und vor allem aus Osteuropa sehr viele Anfragen bekommen. Dort blickt man mit sehr großer Neugierde und einigem Interesse auf die Art und Weise, wie Deutschland dieses Thema angeht. Wir sind da schon ein Vorbild und drohen jetzt statt Fortschritte Rückschritte zu machen."
Source: dw Đăng nhập để sử dụng tính năng dịch báo